Wenige Wochen vor der Pandemie war die Bibliothek in Gelterkinden BL rappelvoll: Vor knapp 100 Zuhörer*innen las Bernadette Ausschnitte aus ihrem Lebensgeschichten-Buch vor, das ihr Enkel Remo geschrieben hat. 📸 Eveline Salzmann
Wie einige von euch wissen, co-leite ich seit ein paar Jahren eine Schreibgruppe, welche die Biografien von Seniorinnen und Senioren in Buchform festhält.
Für das aktuelle Magazin «Kontext» der Pro Mente Sana durfte ich darüber schreiben – und diesen Artikel möchte ich euch nicht vorenthalten. 🤓 Voilà:
«Jeder von uns hatte einen Stuhl, auf den wir im Dunkeln unsere Kleider in einer genauen Reihenfolge legen mussten: zuerst die Hose, dann den Pullover und so weiter. Während der Bombenangriffe mussten wir dann alle an die Wand stehen. Jeder und jede von uns bekam einen Flaschenkorken, den wir zwischen unsere Zähne klemmen und fest draufbeissen mussten. Wenn wir das nicht getan hätten, wäre uns vom Druck der Explosionen die Lunge geplatzt. In den Keller konnten wir nicht, da wir sonst verschüttet worden wären.»
Maria Bürgin (89) sitzt auf der Bühne auf einem Stuhl und liest aus einem Buch Sequenzen aus ihrer Kindheit vor. Sie ist während des Kriegs in Deutschland aufgewachsen. Mit 22 Jahren kam sie in die Schweiz – und blieb. Ihre Enkelin Franziska (29) hat ihr Leben in Buchform aufgeschrieben. Das Publikum ist gerührt, einige wischen sich Tränen aus dem Gesicht.
Maria erzählt, dass sie als Kind Tuberkulose hatte und deswegen in einem Sanatorium behandelt wurde. In dieser Zeit habe sie viel gedichtet und unter anderem ein Lied geschrieben. «Soll ich es euch vorsingen?», fragt sie das Publikum, und von überall her kommt ein Ja. Maria beginnt zu singen.
Auch ich sitze im Publikum und höre den insgesamt sechs Senior*innen zu, die Ausschnitte aus ihrem Leben erzählen. Sie tun dies im Rahmen eines Pilotprojekts, das Karin Viscardi initiiert und mit sechs Hobby-Biografinnen durchgeführt hat. Eigentlich leitet Karin das Regionale Bildungsstudio (Rebisto) im Baselbiet. Doch als sie vor Jahren an einem Kurs über autobiografisches Schreiben teilnahm, wurde ihr klar, dass sie die Lebensgeschichten der älteren Generation festhalten möchte. «Wer kennt sie nicht, diese Einblicke in längst vergangene Zeiten aus den Erzählungen unserer Eltern, Grosseltern und Freunden?», meint sie nach der Lesung. «Damit diese Geschichten nicht vergessen gehen, halten wir sie fest. Unser Projekt soll die Generationen verbinden.»
Karin suchte nach Personen, die gerne schreiben, und fragte ihre älteren Bekannten, ob sie ihre Lebensgeschichten erzählen würden. So kamen sechs Duos zusammen – eines davon war ihre Mutter Maria und ihre Tochter Franziska. «Als Franziska mir den Vorschlag machte, sie wolle meine Lebensgeschichte aufschreiben, war ich zuerst skeptisch», erzählt mir Maria. «Doch ich wagte es. Während der Gespräche lebte die Vergangenheit wieder auf, und mich überkam grosses Heimweh nach meiner Familie. Das Projekt mit meiner Enkelin durchzuführen war so schön, dass ich es inzwischen vermisse.»
«Der Respekt, den ich für meine Oma habe, ist gigantisch»
Was ihre Grossmutter alles erlebt und erreicht hat, dürfe nicht nur «in den Gedanken existieren», sagt Franziska. Denn vieles könnte so einfach vergessen gehen. «Nicht nur ich, die ganze Familie soll wissen, wer meine Oma ist», sagt sie. Sie könne sich gar nicht vorstellen, was ihre Grossmutter im Krieg alles erleben musste. «Wir haben uns noch besser kennengelernt, und uns verbindet jetzt etwas, das nur uns gehört. Der Respekt, den ich für meine Oma habe, ist gigantisch.» Das Buch mit der gesamten Lebensgeschichte ist privat und bleibt jeweils in der Familie. Ausschnitte davon sind jedoch in einem Sammelband öffentlich zugänglich und werden an Lesungen vorgetragen – wie an diesem Anlass, bei dem ich mit der Gruppe zum ersten Mal in Kontakt kam.

Das positive Feedback der erzählenden und schreibenden Personen, von deren Familien, von Leser*innen des Sammelbands und von regionalen Medien veranlasste Karin Viscardi, das Projekt weiterzuführen. Das war 2018. Bis heute haben 13 Hobby-Biograf*innen insgesamt 21 Senior*innen ein halbes Jahr begleitet und deren Lebensgeschichten aufgeschrieben. Im Dezember 2020 erschien der dritte Sammelband.
Ich selbst war und bin von dieser Idee so begeistert, dass ich mich nach der Lesung vor zweieinhalb Jahren der «Schreibgruppe Lebensgeschichten» als Schreiber anschliesse. Ich frage meine Grossmutter, ob sie Lust habe, mit mir beim Projekt mitzumachen; also aus ihrer Vergangenheit zu erzählen, während ich ihre Geschichte aufschreibe. «Ja, klar», ihre Antwort kommt prompt. Kurze Zeit später sitze ich in ihrer Küche, um mit ihr ein erstes Gespräch zu führen.
Als Depressionen noch «kein Thema» waren
«Es war im November 1950, als meine Mutter wegen einer Unterleibsoperation ins Spital musste», erzählt meine Grossmutter. Nach der Operation ging es ihrer Mutter, also meiner Urgrossmutter, nicht gut. Meine Grossmutter erhielt die Nachricht, dass sie ins Spital kommen solle. Also brachen sie, ihr Bruder Paul und ihr Vater dorthin auf. «Im Spital teilte uns meine Mutter mit, dass sie sterben werde. Ich wollte ihr nicht glauben. Ich liebte sie sehr.» Es sei ein sehr langsamer Prozess gewesen, berichtet meine Grossmutter, und eine Träne läuft ihr über das Gesicht. «Irgendwann sagte meine Mutter nichts mehr.»
Ich schaue meine Grossmutter an und weiss nicht, was ich sagen oder tun soll. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich sie nie weinen sehen. Sie ist ein herzlicher Mensch, hat ihre Emotionen aber sonst immer unter Kontrolle. Dann erzählt sie weiter. «Auf dem Nachhauseweg vom Spital sagte mir mein Vater: ‹Du weisst, was du jetzt zu tun hast.› Mir war sofort klar, was er meinte: Ich musste nun für meinen Bruder sorgen und den Haushalt führen – kurzum, ich musste meine verstorbene Mutter ersetzen.» Ihre Ausbildung zur Verkäuferin trat Grossmutter aus diesem Grund nicht an. Sie war damals 18 Jahre alt, ihr Bruder 15. «Ich wurde seine Ersatzmutter. Als Paul mit 20 Jahren in die Rekrutenschule ging, strickte ich ihm Socken und wusch seine Wäsche», erzählt sie weiter.
Ihr Vater – mein Urgrossvater – verkraftete den Tod seiner Frau nicht. Nächtelang lief er im Haus hin und her. Seinen Kindern sagte er sogar, dass er am liebsten sterben würde. Wirklich erholt von seinem Verlust habe er sich nie. «Heutzutage hätte man ihm wohl helfen können. Dazumal waren Depressionen aber noch kein Thema», erzählt Grossmutter.
Die Liebesbriefe bleiben privat
Während unserer Gespräche formt sich bei mir ein neues Bild meiner Grossmutter. Ich beginne, mehr Facetten zu erkennen und zu verstehen. Das Vertrauen, das sie mir erweist, indem sie mit mir einige ihrer traurigsten Momente teilt, ehrt mich. Auch die lustigen und schönen Begebenheiten haben ihren Platz. So erfahre ich, dass Emil, mein verstorbener Grossvater, ihr einziger Verehrer war, der in seinen Liebesbriefen nie einen Schreibfehler gemacht hat. Ich frage, ob ich die Briefe sehen könne. Die Antwort überrascht mich: «Weisst du, die Liebesbriefe habe ich erst kürzlich verbrannt. Denn diese Texte sollen auch nach meinem Tod privat bleiben.»
Fremde werden Freunde
Die ehrenamtliche «Schreibgruppe Lebensgeschichten» bringt nicht nur Grosskinder und Grosseltern näher zusammen – sie verbindet auch völlig fremde Menschen. Wie Pia Lanz (62) und Karl «Kari» Frech (79). Sie lernten sich 2019 durch das Schreibprojekt kennen. «Ich machte hauptsächlich aus ‹Gwunder› mit», sagt Karl. «Es ging mir weniger ums Verarbeiten meiner Vergangenheit. Ich schaue lieber in die Zukunft.» Er sei ein pragmatischer Mann mit viel Humor, meint Pia. «Es war für mich das Schönste, Karis Lebensgeschichte aufschreiben zu dürfen. Unsere Treffen waren immer toll. Daraus hat sich eine Freundschaft ergeben, die bis heute andauert.» Seit die beiden am Projekt teilgenommen haben, telefonieren sie fast wöchentlich.

«Das Projekt ersparte mir einige Antidepressiva»
Rudolf Fiechter (79) wollte beim Projekt zuerst nicht mitmachen: «Meine Nachbarin fragte mich vor drei Jahren, ob ich meine Lebensgeschichte erzählen möchte. Damals lehnte ich ab. Ich war einfach nicht bereit dafür. Rede ich über meine Vergangenheit, löst das möglicherweise etwas in mir aus. Damals hätte ich aber nicht gewusst, wie ich das psychisch verdauen könnte.» Rudolf kämpft seit Jahren mit depressiven Stimmungen. Schliesslich habe er die Teilnahme mit seinem Psychotherapeuten besprochen und sich Anfang 2020 dazu entschieden, mitzumachen. «Die Gespräche mit meiner Schreiberin waren und sind nicht zu übertreffen. Die Chemie passte von Anfang an. Das Projekt ersparte mir einige Antidepressiva! Es ist eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte.»

Susanne Kohli (71) hat Rudolfs Geschichte aufgeschrieben. Sie ist pensionierte Lehrerin und machte bereits zum dritten Mal beim Projekt mit. «Ich bin fasziniert von der Resilienz der Erzählenden und von den Strategien, die sie angewendet haben, um verschiedenste Lebenssituationen zu meistern!». Susanne übernimmt die Arbeit als Schreiberin, weil die jüngeren Angehörigen während der hektischen Jahre des Familien- und Berufslebens selten Zeit hätten für das Sammeln von Hintergrundinformationen ihrer Eltern. «Ich habe es selbst erlebt, dass sich Erinnerungslücken auf einmal nicht mehr schliessen lassen, gerade wenn die betreffende Person bereits verstorben ist.» Mit ihrer ehrenamtlichen Arbeit will Susanne andere vor einer solchen Situation bewahren.
Wie soll meine Vergangenheit aussehen?
Ich bin inzwischen Co-Leiter der «Schreibgruppe Lebensgeschichten» und habe das Privileg, alle Texte – auch die nicht öffentlich zugänglichen – lesen zu dürfen. Ich bemerke, dass ich beginne, über mein eigenes Leben nachzudenken: Wie möchte ich in 40 Jahren über meine Vergangenheit reden? Was kann ich jetzt tun, damit dies Wirklichkeit wird? Auch die Freiheiten, die wir heute haben, werden mir bewusst: Als ich 18 Jahre alt war, verlangte niemand von mir, dass ich meinen Bruder grossziehen, den gesamten Haushalt managen oder gar auf meine Ausbildung verzichten solle. Unvorstellbar, dass meine Grossmutter genau dies erlebte.
Ehrfurcht und Respekt für die Generationen vor uns
Wieso handeln die einen Menschen so und die anderen anders? Warum kann jemand für etwas sein, der oder die andere aber dagegen? Fast immer liegt der Grund in der Vergangenheit. Denn das, was wir erleben, prägt uns. Indem wir die Lebensgeschichten anderer aufschreiben oder sie lesen, erweitert sich unser Horizont, unser Verständnis wächst und so auch die Ehrfurcht und der Respekt für die Generationen vor uns. «Nicht nur die Lebensgeschichten machen das Projekt so bereichernd», sagt Schreiberin Barbara Paulsen Gysin (62), «wir Schreibende treffen uns alle paar Wochen und pflegen einen anregenden Austausch. Das tut gut. Und die jährlichen Lesungen sind ganz wunderbar und runden den Schreibprozess ab.»

Verliebt in den Stiefbruder
Im Dezember 2020 erschien unser dritter Sammelband. Insgesamt sechs Schreiber*innen lernten die Geschichten ihrer Erzähler*innen kennen: Es wird unter anderem über einen Grossvater berichtet, der seiner Exfrau aus Wut ins Bein schoss, und von einer Mutter, die sich in ihren Stiefbruder verliebte. Der Sammelband kann hier bestellt werden schreibgruppe-lebensgeschichten.ch/shop.

das neue Buch der Schreibgruppe!
Wie hat sich das Baselbiet im ersten Jahr mit Corona verändert? Welche Schicksale stecken hinter den täglichen Infektionszahlen? Diesen Fragen gingen fünf Autorinnen der ehrenamtlichen «Schreibgruppe Lebensgeschichten» nach: Ein Jahr lang begleiteten sie Einzelpersonen, Familien und Unternehmen aus dem Baselbiet.

Das Buch «Ein Jahr Corona im Baselbiet» mit den insgesamt 10 Geschichten kann ab sofort hier bestellt werden: schreibgruppe-lebensgeschichten.ch/shop