Tel 143 – Das persönliche Interview mit Sabine Basler

Wer in der Schweiz lebt, hat bestimmt schon mal etwas von der Dargebotenen Hand gehört – oder hat schon einmal dort angerufen. Es ist eine der wohl bekanntesten Sorgenhotlines des Landes.

Sabine Basler (53) ist seit September 2019 die Geschäftsführerin der Dachorganisation für das Sorgentelefon «Tel 143 – Dargebotene Hand». Im Interview redet sie darüber, warum sie nach 16 Jahren das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verlassen hat, warum es wichtig ist, dass die Politik 100 Millionen in die psychische Gesundheit investiert – und wie sie die Zeit erlebte, als ihre Tochter suizidgefährdet war.

Sabine, in deinem LinkedIn-Profil schreibst du über deine Arbeit: «Dafür schlägt mein Herz, und das Arbeiten macht so viel Freude wie noch nie!» Was bereitet dir so viel Freude?
Nach vielen Jahren bei einer Organisation, wo sehr viele Vorgaben und Formulare das Alltagsleben bestimmten und Innovation eher gebremst wurde, habe ich bei Tel 143 einen grossen Gestaltungsspielraum. Kein Tag läuft wie der andere, und ich bin wesentlich seltener in langen Sitzungen anzutreffen. Die Kontakte zu Fachpersonen und Medien sind spannend und von Wohlwollen geprägt. Und die Bandbreite von Themen der psychischen Gesundheit ist gross, ebenso die Aufgaben hier beim Verband.

Für was bist du als Geschäftsführerin konkret zuständig?
Im Prinzip bin ich von der IT, dem Fundraising, der Politik und der Medienarbeit bis hin zur Organisationsentwicklung für alles zuständig. Zum Glück nicht ganz allein, wir sind zu dritt.

Zuvor warst du 16 Jahre beim Bundesamt für Gesundheit tätig. 2019 hast du das BAG verlassen, da es zu «administrativ» wurde – wie administrativ ist deine jetzige Arbeit?
Wir schreiben für viele interne Arbeits- und Projektteams die Protokolle und übersetzen diese auch. Ohne Admin geht es nicht, und ich bin auch nicht grundsätzlich abgeneigt, ein Formular auszufüllen. Aber es gibt Grenzen. (lacht)

Beim BAG warst du unter anderem Leiterin der Sektion Epidemiologie. Was war dort deine Aufgabe?
Ich habe mit einer tollen Frau in Co-Leitung ein Team von rund 12 Spezialisten geführt. Wir hatten die Aufgabe, Daten aus den Arzt- und Labormeldungen zu analysieren, die Trends zu beschreiben, und damit die Empfehlungen für Impfungen oder andere Public-Health-Massnahmen zu ermöglichen.

In dieser Funktion wärst du seit der Pandemie im Dauerstress, oder?
Ja, garantiert. Ich habe regelmässig Kontakt mit meiner ehemaligen Co-Leiterin, der Druck und die Arbeitslast waren und sind enorm gross.

In einem Interview mit Robin Rehmann hast du etwas sehr Persönliches preisgegeben: Deine damals 17-jährige Tochter war suizidgefährdet. Wie war diese Zeit für dich?
Es war eine sehr schwierige Zeit, denn die Auslöser dafür waren für mich nicht nachvollziehbar. Aber wir hatten schon damals ein sehr offenes Verhältnis, und sie erzählte mir von ihrer grossen Verzweiflung. Zusammen gingen wir dann zum Hausarzt, und dieser wiederum verwies sie an eine Jugendpsychiaterin. Als es sehr brenzlig wurde, und ich kurz davorstand, für eine Woche mit meinem Partner in die Ferien zu fahren, konnten wir vereinbaren, dass sie im Kriseninterventionszentrum übernachtet, tagsüber aber regulär die Schule besucht. Für mich als Mutter war diese Situation eine Gratwanderung mit ungewissem Ausgang.

Wie ging es weiter?
Da meine Tochter sehr loyal und zuverlässig ist, konnte ich sicher sein, dass sie diese Vereinbarung einhält. Diese Zuverlässigkeit habe ich auch angesprochen, als sie eines abends davon sprach, zu den SBB-Gleisen zu gehen. Ich habe sie gebeten, nach einer Stunde zurück zu sein und bin dann selber zum Bahneinschnitt gerannt und habe dort beobachtet, was passiert. Später gestand sie mir, dass sie mich dort gesehen hätte… Es war ein schrecklicher Moment, den ich niemandem wünsche. Doch sie war pünktlich zurück, und nachher war Suizid kein Thema mehr.

Ist dieses Erlebnis einer der Gründe, warum du zur Dargebotenen Hand gewechselt hast?
Nein, nicht direkt. Mir ist im Verlauf der Jahre mit meinen beiden Teenies klar geworden, dass die alte autoritäre Schiene nicht mehr funktioniert. Ich habe darum mit ihnen einen Kurs in gewaltfreier Kommunikation gemacht, der uns allen viel gebracht hat. Dabei ist mir klar geworden, dass ich beruflich wieder näher zu den Menschen möchte.

Was hat sich in der Telefonberatung seit Corona geändert?
Nicht so viel, ausser dass Corona im Winter 2020/21 in vielen Gesprächen ein Thema war, und auch Gespräche zu Suizidalität und Suchtverhalten zugenommen haben. Wir haben die Kapazitäten im 2020 um bis zu 14% erhöht, im 2021 um bis zu 8%, und das Angebot wurde gut genutzt.

Anfang Juni hat die Dargebotene Hand zusammen mit der Stiftung Pro Mente Sana und dem Fachverband Public Health Schweiz die Politik dazu aufgefordert, rund 100 Millionen Franken in die psychische Gesundheit zu investieren. Was ist seither geschehen?
Das Postulat, welches einen Bericht zur Psychischen Gesundheit der Jugend gefordert hat, wurde kurz nach unserem Aufruf überwiesen, ebenso vier weitere Postulate* zum Thema Psychische Gesundheit. Mittel wurden meines Wissens noch keine gesprochen.

Falls das Geld doch noch gesprochen wird: Für was würde es die Dargebotene Hand einsetzen?
Wir haben verschiedene Projekte in der Pipeline: den Relaunch unserer Webseite, eine Rebranding-Kampagne, lokale Kampagnen um junge Erwachsene und Menschen in der lateinischen Schweiz besser über unser Angebot zu informieren, eine Tel 143-Academy, wo man empathisches Zuhören lernen kann, einen Kongress für die Freiwilligen als Dank für die geleisteten Einsätze in der Pandemiezeit… Es gibt noch so viel zu tun!

Über die Dargebotene Hand

1957 wurde in Zürich die erste Telefonseelsorgestelle unter dem Namen «Dargebotene Hand» eröffnet. In den Jahren 1957 bis 1975 wurden insgesamt 12 Regionalstellen eingerichtet, welche die gesamte Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein abdecken. 1976 erhielt die Dargebotene Hand von der Post dann die dreistellige Notrufnummer 143. Hilfe erhältst du inzwischen telefonisch (143), via Mail oder im Chat.

Wer berät mich eigentlich?

Rufst du auf die Nummer 143 an, wirst du mit einer von rund 670 freiwilligen Mitarbeitenden verbunden. Die Berater und Beraterinnen sind nicht zwingend psychotherapeutische Fachpersonen, jedoch haben alle eine einjährige Schulung absolviert. Denn der berufliche Hintergrund spielt beim Aufnahmeverfahren der Freiwilligen keine Rolle. «Wichtig ist, dass die Bewerberinnen und Bewerber gut zuhören können, empathisch und respektvoll sind, und fähig, ihr Kommunikationsverhalten zu reflektieren», sagt Sabine Basler. Nach Abschluss der Grundausbildung nehmen die Freiwilligen regelmässig und obligatorisch an Intervisionsgruppen und an externen Supervisionen teil.

Deine Privatsphäre bleibt anonym

Deine Telefonnummer musst du nicht unterdrücken – die ist für niemanden sichtbar. Beim Chatten wird deine IP-Adresse verborgen und beim Mailen wird deine Mailadresse automatisch unterdrückt. «Anonymität und Vertraulichkeit gehören zu unseren höchsten Werten», so Sabine Basler.


*Sabine Basler verweist auf diese vier Postulate: 

Ein Postulat beauftragt den Bundesrat zu prüfen und zu berichten, ob ein Entwurf zu einem Erlass der Bundesversammlung vorgelegt oder eine Massnahme getroffen werden muss. Ein Postulat kann von einem Ratsmitglied, einer Fraktion oder einer Kommissionsmehrheit eingereicht werden.