«Ein gesunder Angehöriger ist das grösste Geschenk»

Vor etwas mehr als zwei Jahren lernte ich Marie-Therese Keller an einem Podium kennen, bei dem ich Gast war. Beim Apéro kamen wir ins Gespräch und ich erfuhr, dass sie im Vorstand der VASK Aargau tätig ist, einer Vereinigung von Angehörigen von psychisch Erkrankten.

Sie selbst leitet Angehörigengruppen, ist verantwortlich für die Weiterbildung von Angehörigen, bedient das Beratungstelefon und ist selbst Angehörige.

Marie-Therese, was sind die Hauptanliegen der Angehörigen?
Sie fühlen sich oft ohnmächtig und der Situation hilflos ausgeliefert, wenn jemand in der Familie psychisch erkrankt ist. Darum wünschen sie sich mehr Unterstützung durch Fachleute: Diese konzentrieren sich auf den Patienten, nicht aber um dessen Umfeld. Das psychosoziale systemische Denken und Handeln wird dadurch kläglich vernachlässigt.

Das liegt wohl an der Schweigepflicht – oder wie siehst du das?
Sicher und dieser Schutz ist für die Patienten auch wichtig. Die Fachpersonen könnten die Angehörigen einfach allgemein über die psychischen Krankheiten informieren, ohne über private Details zu sprechen.

Aber längst nicht alle wollen, dass ihre Therapeutin oder ihr Therapeut mit der Familie in Kontakt kommt.
Ja, ein schwieriges Thema, dieser Entscheid ist zu akzeptieren. In solchen Momenten wäre es ratsam, wenn man die Angehörigen zumindest an eine andere Person oder an einen Angehörigenverein wie die VASK weiterverweisen würde.

Die VASK bietet unter anderem Gesprächsgruppen für Angehörige an. Warum ist das wichtig?
In einem geschützten Rahmen über die schwierigen Situationen, die durch das Verhalten von psychisch Erkrankten ausgelöst werden, zu reden und zu spüren, dass man nicht allein ist, gibt den Angehörigen unglaublich viel Kraft. In unseren Gruppen wird unter anderem auch gelacht – das ist sehr wichtig.

Du selbst bist auch Angehörige – vor über 20 Jahren erkrankte ein Familienmitglied unter anderem an Depressionen. Wie bist du damit umgegangen?
Damals hatte ich wenig Ahnung von psychischen Erkrankungen. Es war einfach furchtbar. Ich fragte mich, wieso benimmt sich die Person so? Mir ging es sehr schlecht und ich musste schauen, dass ich nicht selbst krank werde.

Marie-Therese Keller ist gelernte Pflegerin und seit Jahren als freiberufliche Sozialarbeiterin und ILP-Begleiterin tätig.

Marie-Therese Keller ist gelernte Pflegerin und seit Jahren als freiberufliche Sozialarbeiterin und ILP-Begleiterin tätig (ILP = Integrierte Lösungsorientierte Persönlichkeitsentwicklung). Zudem erlernt sie die Gebärdensprache, was ihr eine neue Welt der Kommunikation eröffnet.
ilp-begleitung.ch

Welche Unterstützung hattest du?
Eine Psychologin des Familienmitglieds sagte zu mir: «Gerade wenn es der Person schlecht geht, müssen Sie gut auf sich selbst achten.» Das konnte ich zuerst nicht nachvollziehen, empfand die Aussage als völlig paradox. Aber ich probierte es aus und es wirkte. Ich holte mir damit das Positive in mein Leben zurück.

Wie reagierte das Familienmitglied darauf?
Die Person profitierte davon, dass ich bei ihrem Emotionen-Karussell nicht mehr mitmachte. Das gab ihr Halt.

Um was wärst du damals zusätzlich froh gewesen?
Dass mir jemand sagen würde, dass es an der psychischen Erkrankung liegt, dass sich unser Familienmitglied so unzurechnungsfähig verhält und sie das nicht aus Bosheit oder Trotz macht. Das hätte uns allen Klarheit gebracht.
Viele Angehörige leiden lange und machen weiter, bis sie nicht mehr können. Dabei würden ihnen schon simple Informationen helfen, mit der Situation besser umgehen zu können. Darum engagiere ich mich bei der VASK, um dieser Notlage etwas entgegenhalten zu können.

Sich Hilfe zu holen oder einfach mal «stopp» zu sagen ist für Angehörige schwierig. Hast du einen Tipp?
Ein gesunder Angehöriger, der sich gut abgrenzen kann, ist das allergrösste Geschenk für psychisch Erkrankte. Zudem gibt die klare Abgrenzung den Angehörigen wieder ein Stück Freiheit zurück und den Betroffenen gibt sie Halt.

Über die VASK Aargau
Die Vereinigung der Angehörigen von psychisch Kranken Aargau, kurz VASK Aargau (das «S» stammt aus dem früheren Fokus auf schizophrenie Erkrankte) wurde 1982 gegründet. Heute zählt sie rund 150 Mitglieder.
Um auch gesamtschweizerisch tätig sein zu können, wurde 1998 der Dachverband VASK Schweiz gegründet. Ziel aller Vereinigungen ist es, den Trialog zwischen Betroffenen, Fachpersonen und Angehörigen zu fördern.
Hier gehts zum Merkblatt für Angehörige der VASK Aargau.

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