War alles gelogen?

Manchmal mache ich mir den Vorwurf, euch angelogen zu haben. Dass alles, was ich je geschrieben oder gesagte habe, gar nicht stimmt: Dass es gar kein zufriedenes Leben geben kann mit einer psychischen Erkrankung. Dass es gar nie besser wird. Und dass eigentlich gar niemand dafür Verständnis haben muss – da ich an allem selbst schuld bin und es gar nichts mit der Depression zu tun hat. Dass die Depression nur eine Ausrede ist.

Krass, oder? Wenn ich den Abschnitt oben nochmals durchlese, bin ich selbst irgendwie überwältigt von so viel Negativität. Diese Gedanken kommen nicht oft, aber immer dann, wenn ich (sehr) gestresst bin und ich in alte Verhaltens- und Gedankenmuster verfalle.

die Depression will überleben

Es ist wie ein letztes Aufbäumen der Depression, ein «Bitte vergiss mich nicht, Remo», ein Ringen ums Überleben. Warum? Nun, seit einigen Monaten schreibe ich hier nicht mehr viel über mein privates Leben oder über meine Depression – denn es gibt schlicht nicht mehr viel zu sagen: Denn es geht mir gut. Das ist eine wunderbare Entwicklung und dahinter liegt viel, sehr viel Arbeit: Jahrelange Therapie, konstante Selbstreflexion, Arbeit an mir selbst, unzählige Rückschläge gab es zu Verarbeiten und es bedingt eine grosse Disziplin, jedes mal einfach weiterzumachen.

Und trotz allem begleitete mich die Depression 15 Jahre lang, mein halbes Leben. Egal ob das nun «gut» oder «schlecht» ist – in dieser Zeit gewöhnt man sich aneinander. Logisch, dass es meine depressive Seite nun nicht so cool findet, wenn ich sie nicht mehr gross beachte.

Auch an ein «gutes Leben» muss man sich gewöhnen

Ich freue mich riesig über die jetzige Phase, denn ich kann mein Leben aktiver gestalten und mich auch für andere Betroffene besser einsetzten. Zudem kann ich einen kleinen Teil dazu beitragen, dass der Beruf als Journalist*in etwas «gesünder» wird (siehe hier mein Interview auf persoenlich.com über Journalismus und Mental Health).

Aber eben: Umso mehr ich mich daran gewöhne, dass es mir gut geht, desto heftiger schreit die Depression um Anerkennung, so scheint es. Zwischendurch will sie mir einfach weismachen, dass alles einfach nur gelogen war und ist.

Es mag paradox und zugleich logisch klingen, aber auch an ein «gutes Leben» muss man sich gewöhnen. Denn nachdem mich der dunkle Schatten mein halbes Leben begleitet hat, ist alles neue, positive irgendwie verdammt ungewohnt und manchmal auch einschüchternd. Ich habe ein grosses Verständnis für den depressiven Teil in mir – der gesunde Teil ist mir verhältnismässig aber fremd. Dieses Paradoxon auszuhalten und auch zu akzeptieren, ist manchmal sehr schwierig und stiftet Verwirrung.

Kurzum: Auch an das Positive muss man sich gewöhnen und sich damit anfreunden. Und nur wenn ich zwischendurch wieder Rückschläge erlebe, heisst das nicht, dass alles Positive, was ich bisher erreicht habe, gelogen war. Es ist Teil meiner Geschichte und meiner Entwicklung. Und wenn ich mich das nächste Mal frage, ob alles gelogen war, dann les‘ ich mir diesen Text nochmals durch. Eigentlich ist es doch wunderbar, mit 30 Jahren in ein neues Leben zu starten, oder? 😊

Was meinst du dazu, kennst du solche Momente, in denen du das Gefühl hast, dass alles vergebens war? Kannst du positive Momente zulassen? Wie gehst du damit um? Lass es mich wissen!

Herzlichst
Remo🦊

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